Jedes Dilemma ist ein Problem - aber nicht jedes Problem ist ein Dilemma?

Woran erkennen wir Dilemmas?

Es sind jene Entscheidungen, bei denen wir nur verlieren können, wir die Wahl zwischen Pest und Cholera haben.

Der Duden definiert ein Dilemma als „Zwangslage, Situation, in der sich jemand befindet, besonders wenn er zwischen zwei in gleicher Weise schwierigen oder unangenehmen Dingen wählen soll oder muss“.

Aber bei der Definition fehlt noch etwas: Nicht nur sind die beiden Dinge schwierig und unangenehm, sondern man braucht irgendwie beide Dinge. Eine Entscheidung wird dann zum Dilemma, wenn wir entscheiden müssen, weder das eine, noch das andere wollen, aber letztendlich beides benötigen. Die Definition von Oswald Neuberger bringt daher Dilemmas gut auf den Punkt. Wir haben ein Dilemma, wenn

  • wir zwischen den Optionen entscheiden müssen: Es herrscht Handlungsdruck und wir können die Entscheidung nicht auf die lange Bank schieben. Bis Ende der Woche müssen Sie entscheiden, welchen der Urlaubsanträge Ihrer beiden Mitarbeiterinnen Sie genehmigen. Die Damen müssen schließlich ja auch planen und buchen können.
  • die Optionen gegeben sind: Es geht nicht um irgendwelche hypothetische Dinge, die eintreten könnten, sondern um Optionen, die klar auf dem Tisch liegen. In unserem Fall liegen Ihnen die Urlaubsanträge vor.
  • die Optionen gegensätzlich sind: Die eine Option schließt die andere Option aus – und gleichzeitig brauchen wir beide Optionen: Sie können nur einer der beiden Mitarbeiterinnen Urlaub gewähren. Sonst wären Sie im Team unterbesetzt. Egal, wie Sie entscheiden, Sie laufen Gefahr, eine der beiden Mitarbeiterinnen zu enttäuschen und zu frustrieren. Und dass wollen Sie ja gar nicht.
  • die Optionen gleichwertig sind: Egal, wie Sie entscheiden, beide Entscheidungen sind gleich unattraktiv: Sie brauchen das Engagement beider Kolleginnen, Sie können es sich nicht leisten, weder die eine, noch die andere Mitarbeiterin sauer zu fahren.

Quelle: nach Neuberger, O.: (2002:337f.) Führen und führen lassen. 6. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius.

Wo finden wir Dilemmas?

Wir finden Dilemmas überall in der Organisation. Die Frage für den Aufsichtsrat, ob der Gewinn lieber ausgeschüttet wird, um die Aktionäre bei Laune zu halten oder lieber in neue Produkte zu investieren, ist ein Dilemma für das Top-Management. Für die Teamleiterin ist es ein Dilemma, wie sie mit den zeitgleichen Urlaubsanträgen umgeht. Dilemmas tauchen sowohl als Management-Dilemmas als auch als Führungsdilemmas auf.

Was sind die typischen Dilemmas?

  • Dilemmas tauchen in den unterschiedlichsten Formen und Varianten auf. Doch lässt sich das Gros der Dilemmas in eine von vier Kategorien einordnen
  • Bewahrung und Veränderung: Wenn wir die Dinge immer so tun wie bisher, sind wir als Unternehmen früher oder später nicht mehr wettbewerbsfähig. Dafür sorgen der Wettbewerb und die sich ändernden Kundenbedürfnisse. Bloß wenn wir alles ständig verändern, läuft eine Organisation Gefahr, im Chaos zu versinken, so mit der eigenen Reorganisation, dem eigenen Change beschäftigt zu sein, dass sie gar nicht mehr dazu kommt, sich um die Kunden und ihre Anliegen zu kümmern. Die Organisation muss sich ständig verändern und gleichzeitig gleich bleiben.
  • Fremdbestimmung und Selbstbestimmung: Als Vorgesetzte haben Sie nicht die Zeit (und vielleicht auch nicht die Lust) Ihre Mitarbeiter ständig zu kontrollieren und alle Entscheidungen selbst zu treffen. Dann bräuchten Sie die Mitarbeiter ja gar nicht erst einstellen. Doch allen Entscheidungen den Mitarbeitenden zu überlassen, geht auch nicht. Schließlich sind Sie ja verantwortlich. Ständig zu kontrollieren ist genauso wenig die Option wie gar nicht zu kontrollieren. Sie müssen Freiheiten geben, ohne Freiheit zu geben.
  • Standardisierung und Individualisierung: Im Unternehmen werden Prozesse und Regeln standardisiert. Denn es zu teuer und zu zeitaufwändig, das Rad immer wieder neu zu erfinden, zehnmal im Unternehmen die gleiche Kennzahl zu definieren. Doch gleichzeitig sind weder die Mitarbeiter alle gleich, noch die Kunden, noch die Spielregeln auf den unterschiedlichen Märkten und Marktsegmente. Also müssen wir immer wieder auf Einzelfälle eingehen. Egal, ob beim Umgang mit Mitarbeitern oder Tochtergesellschaften. Doch zu sehr dürfen wir auch nicht auf sie eingehen. Das würde die Firma zu teuer und zu langsam machen. Wir müssen die Dinge standardisieren und gleichzeitig vom Standard abweichen.
  • Konkurrenz und Zusammenarbeit: Wir brauchen die Kollegen, um gemeinsam Dinge zu erreichen, das Projekt abzuwickeln, den Chef von einer Idee abzubringen, die uns allen nicht passt. Gleichzeitig konkurrieren wir mit unseren Kollegen um die Aufmerksamkeit des Chefs, die spannenden Projekte oder die wenigen Chancen, auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Auch als Firma liegen wir im Wettbewerb mit anderen Firmen, arbeiten gleichzeitig mit diesen Firmen an der Entwicklung teurer Komponenten oder beim Lobbying für uns alle vorteilhafte Gesetze zusammen. Wir müssen gleichzeitig konkurrieren und nicht konkurrieren.

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Dilemmas sind auch keine neue Erscheinung.

Schon der gute Odysseus musste sich nicht nur mit Zyklopen und Sirenen herumschlagen, sondern auch mit handfesten Dilemmas. Im Laufe seiner Heimreise kam das Boot des Odysseus durch eine Meerenge. Auf der einen Seite wohnte das sechsköpfige Ungeheuer Szylla, da jeden auffraß, der ihm zu nahekam. Gegenüber tobte die Charybdis, ein Meeresstrudel, der alle Schiffe verschlang, die zu nahe an ihn herankamen. Entweder der eine Tod oder der andere drohte Odysseus und seiner Mannschaft. Odysseus gelang zwar die Gratwanderung zwischen den beiden Übeln, aber nicht ohne einen Preis. Er verlor sechs seiner Männer an die Szylla, die diese verschlingt als das Boot versucht, der Charybdis auszuweichen.

Nicht nur bei Odysseus tauchen Dilemmas auch. Die griechischen  Tragödien wie z.B. Antigone sind voll von Dilemmas. Bei diesen Dilemmas geht es meist um Leben und Tod. Soll Antigone der Verpflichtung nachkommen, ihren Bruder zu bestatten obwohl der Tyrann Kreon die Bestattung des Gegners verboten hatte? Antigone zahlt für ihre Entscheidung mit ihrem Leben.

Im Vergleich dazu verlieren die Dilemmas des Managementalltages dann doch etwas an Schrecken. Hier geht es dann „nur“ um frustrierte Mitarbeiter oder vertane Chancen am Markt.

Nicht alle Dilemmas sind schlecht

Manchmal müssen wir zwischen mindestens zwei gleich guten Alternativen wählen. Angeblich verhungerte in der Antike der Esel des Buridans, weil er genau zwischen zwei vollkommen gleich attraktiven Heuhaufen stand und sich nicht entscheiden konnte, von welchem er fressen  sollte. Doch positiven Dilemmas sind selten – und noch seltener so tödlich wie im Fall des dämlichen Esels. Wenn wir wirklich einmal zwischen zwei gleich guten Dingen wählen müssen, ist das eher ein Luxusproblem, wird aber nicht als Dilemma gesehen. Und wie oft müssen Sie sich zwischen zwei neuen Job-Angeboten entscheiden, die beide zu einem gleich großen Zuwachs an Verantwortung, Status, spannenden Aufgaben und Geld führen?